20 Jahre Rieger-Orgel im Essener Dom

In mehr als 750 Gottesdiensten pro Jahr erklingt die vor nun 20 Jahren feierlich geweihte Rieger-Orgel im Hohen Dom zu Essen, der Kathedralkirche des Ruhrbistums. Über 500 davon liegen in der Hand des jeweiligen Domorganisten. Wie lassen sich nun die Erfahrungen aus zehn Jahren Musizieren an und mit diesem Instrument zusammenfassen?

„Es gibt in all den Jahren nicht auch nur eine Minute, an der ich irgendeine Form von Langeweile empfunden hätte“, so kann ein Satz lauten. Und es ist tatsächlich so: die in Organistenkreisen gerne gepflegte Unterscheidung von „Konzertorgeln“ zu „Gottesdienstorgeln“, das Denken in Instrumenten unterschiedlichst ausgeprägter Stilistik, das Ausschließen bestimmter Musik, die auf der jeweiligen Orgel nicht gut oder gar nicht zu realisieren sei…

… diese Kategorien, diese Einschränkungen sprengt diese Königin der Instrumente, hier über der Goldenen Madonna so kostbar als möglich platziert.

Dabei sind die Bedingungen eigentlich nicht unproblematisch: Der Raum ist von einer Akustik, die einerseits jeden Klang aufs Schönste veredelt, andererseits aber auch jedes Zuviel an Klang, jedes Zuwenig an Entspannung erbarmungslos bestraft. „In diesem Raum bekommt jeder Klang eine Bedeutung“, so drückte es der Schlagzeuger Alexej Gerassimez aus. Eine Orgel sollte entspannt in den größten Raum sprechen – hier aber kann sie nicht im Westen positioniert sein. Die Orgelempore bildet so etwas wie einen in sich abgeschlossenen Raum, in dem sich der dort entstehende Klang erst einmal fängt, bevor er durch eine verhältnismäßig kleine und noch dazu durch eine raumgreifende Säule verbaute Öffnung ins Kirchenschiff spricht. Der zur Verfügung stehende Platz ist für die benötigte Registeranzahl objektiv sehr knapp bemessen. Für eine gute Führung des Gemeindegesangs ist ein weiteres Teilwerk unerlässlich. Nicht unproblematische Bedingungen, es sei einmal wiederholt.

 

Was für ein Instrument steht, was für eine Orgel klingt seit nun 20 Jahren auf der Dominsel, in der Keimzelle der Stadt?

 

Diese Orgel vermag vom leisesten, bei Bewegung im Raum praktisch unhörbaren Säuseln bis zum machtvoll-erschütternden Fortissimo alle Lautstärke- und Klangfarbenbereiche mühelos abzudecken. Bei aller symphonischer Größe ist sie aber gleichzeitig von einer Detailtreue in der Spieltraktur, dass dem Spieler alle Artikulations- und Sprechmöglichkeiten offenstehen. Die besondere Aufstellung auf der Empore ermöglicht einerseits, dass bei Betonung der in diesen eigenen akustischen Raum sprechenden Teilwerke der Klang ein sehr vornehm-zurückhaltender sein kann, dass das Instrument bei Verwendung des direkt in den Altarraum sprechenden Schwellwerks aber auch ein Pianissimo nicht undeutlich-mulmig, sondern von einer in aller Zartheit großen Klarheit anbietet. Das einteilige Gehäuse fördert eine selten zu findende Verschmelzung – anders als bei anderen Instrumenten sind die Manuale klanglich nicht getrennt für sich zu verstehen, sondern bieten die Klangfarben als eine große Farbpalette an. Differenziertes Einschwingverhalten der einzelnen Register ermöglicht ein wahrhaft dynamisches Spiel, wie auch unterschiedlichste Koppelmöglichkeiten tatsächlich de facto das gesamte Orgelrepertoire realisierbar machen.

Das Instrument ist geradezu genial konstruiert und handwerklich in höchster Präzision umgesetzt (so finden sich alle beweglichen Teile akustisch abgeschlossen im Unterbau des Gehäuses, während die Pfeifen im Oberbau sprechen). So mag man im Innern den Eindruck haben, es sei genügend Platz, um zu zweit an einem kleinen Tisch ein Tässchen Kaffee zu nehmen. Im liturgischen wie konzertanten Musizieren potenziert das Auxiliaire durch seine Klangfarben wie auch deren Spielbarmachung – seinerzeit eine Pioniertat – diese beschriebenen Möglichkeiten.

Es ist keine Übertreibung: außerhalb der Fastenzeit, zu der die Orgelmusik zurückhaltend zu realisieren ist, finden in den Gottesdiensten über zwei Wochen praktisch sämtliche Register ihre Verwendung, ausgenommen höchstens die schier waffenscheinpflichtige Bombarde 16’ des Pedals…

 

Das führt zur fast paradoxen Conclusio: dieses Instrument vermag auch scheinbare Nachteile zu einem großen Plus zu verwandeln. Durch die Summe der genannten Eigenschaften wie insgesamt seine derzeitige Akustik verfügt der Essener Dom über eine Eignung zur Orgel-Kammermusik mit unterschiedlichsten Instrumenten wie wohl keine andere deutsche Kathedralkirche.

 

Auch lassen zahlreiche Gastkonzerte immer wieder neu erleben, wie ungemein wandelbar das Instrument ist, wie es der Persönlichkeit der jeweiligen Gäste ein klangliches Abbild verleiht. Gleichzeitig „schenkt“ die Orgel aber auch nichts, sondern fordert vielmehr alles vom Spieler: wer nicht mit der gebotenen Sensibilität und Offenheit für Raum, Instrument und Musik agiert, wer vorgefertigte Meinung über offenen Geist und offenes Herz stellt, wird fast garantiert scheitern.

So ist es immer wieder neu eine Herausforderung, einem Instrument, das alle Möglichkeiten bietet, auch entsprechend gerecht zu werden. Wenn das gelingt, gibt diese nunmehr zwanzig Jahre alte Rieger-Orgel im Essener Dom das Schönste zurück, das eine Orgel zu bieten hat:

 

Sie singt.

 

 

 

Domorganist Sebastian Küchler-Blessing, März 2024

Sebastian Küchler-Blessing
Domorganist
An St. Quintin 3
45127 Essen

Cookie Einstellungen

Erforderliche Cookies sind für den reibungslosen Betrieb der Website zuständig, indem sie Kernfunktionalitäten ermöglichen, ohne die unsere Website nicht richtig funktioniert. Diese Cookies können nur über Ihre Browser-Einstellungen deaktiviert werden.

Anbieter:

Domkapitel Essen

Datenschutz

Statistik-Cookies dienen der Analyse und helfen uns dabei zu verstehen, wie Besucher mit unserer Website interagieren, indem Informationen anonymisiert gesammelt werden. Auf Basis dieser Informationen können wir unsere Website für Sie weiter verbessern und optimieren.

Anbieter:

Domkapitel Essen

Datenschutz